FREUNDLICH FIGHTEN…


…UND DIE SEELE FLIEGEN LASSEN – BEIM ULTIMATIVEN FRISBEE

 

Von Rene Gralla 

 

Manchmal gehen das Derbe und das Filigrane überraschend gut zusammen. Auf dem Kunststoffrasen in Hamburgs Sternschanzenpark bolzen unter dem ehemaligen Wasserturm, der jetzt ein Hotel beherbergt, die Kicker der Sportvereinigung Polizei. Kompromisslose Beinarbeit ist angesagt, und trocken knallt’s, wenn das Leder einen Tritt kriegt. Gerne begleitet von mehr oder minder lautstarken Verwünschungen.

Dagegen ist auf dem Nachbarfeld beinahe nichts zu hören. Niemand flucht, kein Schiri pfeift, und die Frauen und Männer, die hier über den Platz laufen, gruppieren sich ohne Rempeleien ständig neu. Während das Spielgerät erst bei genauem Hinsehen auszumachen ist: eine flache Scheibe, die weite Kurven zieht. Bis sie aus der Luft geangelt wird von einer Spielerin, in vollem Lauf, und alle klatschen.

„Ultimate“ heißt dieser Teamsport, den US-amerikanische Studenten Ende der 1960-er Jahre erfunden haben. Eine Frisbeescheibe muss von einem Mitglied der angreifenden Mannschaft in der gegnerischen Endzone gefangen werden, dann gibt es einen Punkt. So wie eben gerade geschehen beim Testmatch der „Hamburg Fischbees“: Annähernd 5000 Freunde der schnellen Scheiben haben sich mittlerweile hierzulande in Vereinen organisiert, weltweit dagegen sind das bereits mehr als fünf Millionen, von denen die meisten in den USA und Kanada spielen.

„Noch sind wir eine Randsportart, ganz klar“, räumt Andreas Runte ein. Und deswegen habe man sich der SV Polizei angeschlossen, andernfalls „würden wir in Hamburg nie einen Trainingsplatz kriegen“. Der 41-jährige IT-Projektmanager ist Gründungsmitglied und Vorsitzender der „Fischbees“ und hockt heute auf der Ersatzbank. Und wie kommen die derart unterschiedlichen Temperamente im Klub miteinander klar, die schnörkellosen Fußballarbeiter und die Frisbee-Fans, die mehr für Lässigkeit als für leidensfähiges Ackern stehen? „Wir werden geflissentlich ignoriert“, sagt Andreas Runte, „aber wir werden immer wieder auch mal interessiert beschaut.“

Schließlich kann, jedenfalls vom Standpunkt eines Fußballers, doch gar nicht funktionieren, was ein zentrales Prinzip im Ultimate ist: der konsequente Verzicht auf Unparteiische. Und doch soll das problemlos klappen, berichtet Andreas Runte, weil im Streitfall nicht einer den anderen seine Meinung aufdrückt, sondern die übrigen Spieler gemeinsam entscheiden, falls sich die unmittelbar Beteiligten nicht einigen können. Und gibt es keinen Konsens – „die höchste Form des Miteinander“, davon ist Andreas Runte überzeugt – , wird eine Aktion schlicht wiederholt.

Das Kollektiv wird’s richten, immerhin macht ein strenges Regelwerk die Sache leichter. Jeder Körperkontakt ist verboten, und niemand darf dem Gegner die Scheibe aus der Hand reißen. Deswegen ist meistens klar, ob jemand gefoult hat, resümiert Andreas Runte.  

Hinzu kommt, dass sich alle Ultimate-Sportler dem besonderen „Spirit of the Game“ verpflichtet fühlen. Fair Play, das ist der „Geist des Spiels“, und den hat der Weltverband „World Flying Disc Federation“ (WFDF) ausdrücklich als wichtigsten Paragrafen in seinen Statuten formuliert: „Es wird darauf vertraut, dass kein Spieler absichtlich die Regeln verletzt. Hoher kämpferischer Einsatz wird zwar gefördert, darf aber niemals auf Kosten gegenseitigen Respekts, des Festhaltens an den vereinbarten Spielregeln oder der Freude am Spiel gehen.“

 

Für Andreas Runte ist jener „Spirit of the Game“ der beste Grund, Ultimate zu spielen. Zumal das Verbot robuster Einsätze, ohne die ein Fußballer niemals das Tor treffen würde, keineswegs heißen solle, „spiel‘ lieber zurückhaltend, egal ob du gewinnst oder verlierst“, das dürfe bloß nicht „zu Lasten der Gesundheit und der Freundlichkeit gehen“.

Freundlich fighten? Da haben die Polizei-Kicker natürlich einiges zu gucken, am gemeinsamen Übungsabend mit der Frisbee-Abteilung. Und obendrein kriegen sie einiges zu hören – oder vielmehr gerade nicht zu hören: „Wir verbieten uns jede Häme im Spiel, auch das verlangt der ‚Spirit of the Game‘, und fällt den anderen die Scheibe runter, lachen wir nicht.“ Und gelinge den Gegnern ein guter Zug, werde respektvoll applaudiert.

Eine fast surreale Höflichkeit im Wettkampfsport. Kann man wirklich ernsthaft zur Sache gehen, ohne irgendwann „Du Arsch!“ zu brüllen?! „Doch, das passiert“, sagt Andreas Runte, „aber dann fängt sich der Betreffende sofort eine Sanktion ein. Normalerweise nimmt ihn der eigene Kapitän aus dem Team.“

Ultimate, der Sport für nette Menschen. Und kein schlechtes Vorbild für die Fußballer gleich nebenan. Wobei die Frisbee-Leute, jedenfalls was die Anleitung zu Sozialverhalten betrifft, einen entscheidenden Vorteil gegenüber der ballernden Fraktion haben: Die Ultimate-Teams sind „gemischtgeschlechtlich aufgestellt“, betont Andreas Runte, das sei „der Normalfall“ und „die Königsdisziplin“. Und dank der anwesenden Frauen würden sich die Männer eher zusammenreißen und nicht grunzen und ausrasten wie „Paviane im Käfig“.

Den disziplinierenden Einfluss der Frauen bestätigt auch Magdalena, die während einer Spielunterbrechung den Platz verlässt und einen Schluck aus der Wasserflasche nimmt. Die 25-jährige Wienerin studiert Ernährungswissenschaft und hat mit Ultimate begonnen, weil der Sport „elegant und total schön anzuschauen ist“. Und der Beobachter am Rand kann das nur bestätigen: Weiträumige Manöver und kurze Zwischenschritte entwickeln sich zu einer schwungvollen Choreographie, die kein böses Foul rüde unterbricht.

Und folgt der Blick der Scheibe, erfasst dich plötzlich eine seltsame Leichtigkeit. Und du staunst, dass dieses runde Teil einfach dahinsegelt. Das ist schlicht faszinierend, und eben das begeistert auch Ultimate-Routinier Andreas Runte jeden Tag aufs Neue an seinem Sport. Und er zitiert einen der Frisbee-Pioniere: „When the disc flies, a part of your soul travels with it.“

Wenn die Scheibe fliegt, fliegt ein Stück deiner Seele mit.

Die pure Poesie – und eine andere Welt für die Fußballer der SV Polizei. Aber immerhin tolerieren sie dieses Paralleluniversum in ihrem Quartier, und das ist ja schon mal ein Anfang.